Der Parasit ist das Wappentier der Kunst

Die Wiener Schriftstellerin Brigitta Falkner ist eine Spezialistin für parasitäre Wesen in der Natur. Was sie dort beobachtet, überträgt sie mit Witz und Hintersinn in die Literatur.

Will man es denn wissen? Wie es zugeht in den Wäldern des Teppichflors, wo die Milbe im Mikromüll wühlt? Was die Staublaus treibt in den Folianten einer Bibliothek und der Flechtenbär in den Populationen der Fledermäuse? Die finsteren Milieus der Fauna haben unter einem Ruf zu leiden, für den die Natur nichts kann, der Mensch dafür umso mehr. In ihrem Buch «Strategien der Wirtsfindung» unternimmt die österreicherin Brigitta Falkner eine Ehrenrettung der schmarotzenden Einschleichdiebe und der Könige der Mimikry. Sie schafft eine Enzyklopädie aus Bildern und Texten, in der das Hässliche zum Schönen wird. Und siehe da: Es ist der Parasit geradezu ein Wappentier der Kunst. Fein verästelt sind die synergetischen Systeme, von denen Brigitta Falkner erzählt. Im überlebenskampf nimmt die Natur die aberwitzigsten und durchtriebensten Volten, und so ist auch das Buch ein grosses Flirren. Ein Schwirren der Insekten, ein Klappern und Knacken. Daneben die für Vexierbilder taugliche Verstellungskunst der Betrüger im Tierreich und das leise Schleichen der schmarotzenden Kleinstlebewesen. «All things are vectors», zitiert Brigitta Falkner den Mathematiker A. N. Whitehead und legt damit eine philosophische Spur durch die Comic-Wimmelbilder ihres neuen Werks. Es ist die kosmologische Ordnung, die bleibt, auch wenn es nach Chaos aussieht. Und es ist die Ordnung der Poesie. Die lakonische Exaktheit der Naturwissenschaft wird in diesem Buch zu einer Sprache voller Sanftheit, zu Gedichten auf den braunen Bäumchenfisch und den Zipfelfrosch, den Grunzbarsch und den Schlangenstern. Der Schlangenstern wurde erst 1998 vor der Küste von Sulawesi an einer Flussmündung entdeckt, weil er sich wie kein anderes Lebewesen unsichtbar machen kann. Diesem Thaumoctopus mimicus ist es ein Leichtes, in Gestalt des Pfaubutts aufzutreten, als Feuerfisch oder als hirnlose Qualle. Die Wandlungsfähigkeit ist seine grosse Kunst, er tarnt sich und täuscht, so wie es auch das Buch von Brigitta Falkner tut. In seiner üppigkeit verhalten sich schon Text und Bild zueinander parasitär, aber das genügt noch nicht. Der Leser selbst wird mit seinen Augen und Sinnen zum Wirtstier eines raffinierten Spiels: Noch selten hat die Literatur den Schmarotzern eine so opulente Bühne geboten wie Brigitta Falkners Buch. Auch der intellektuelle Mehrwert ist beträchtlich. «Strategien der Wirtsfindung» ist ein Kompendium der Klugheit von Charles Babbage über Fritz Mauthner bis zu Willard Van Orman Quine und Ernst Mach. Adornos «Minima Moralia» auf Augenhöhe mit Schwammspinnern und Bärtierchen. Brigitta Falkner wurde 1959 in Wien geboren als Tochter eines Architekten, der in den achtziger Jahren die bauliche Postmoderne in österreich mitbestimmt hat. Im Wiener Café Bräunerhof, in das die Frühjahrssonne scheint, kann man mit ihr über alles reden, nur nicht über ihre Kunst. Warum auch? Denn im Grunde sind Falkners Arbeiten, die die Grenzen zwischen Zeichnung, Film, Literatur und Mathematik auflösen, selbsterklärend. Aus den einfachsten Prinzipien werden komplexe Systeme, und diese Fallhöhe ergibt auch den enormen Witz, den diese Werke haben. Im Kurzfilm «Das Prinzip i» wird eine ganze Geschichte als Lipogramm erzählt. Die Geschichte von Willi aus Linz. Die Orte Rimini, Grinzing und Illmitz spielen auch eine Rolle. Und Willis Mutter Ingrid. Ein Lipogramm ist ein Text, der auf bestimmte Buchstaben verzichtet. Wenn Georges Perecs Roman «La Disparition» (ohne den Buchstaben E) das berühmteste Beispiel dieser Gattung ist, dann ist Falkners «Prinzip i» eines der forciertesten. Im Lang-Anagramm «Bunte Tuben», das ein ganzes Buch füllt, hat die Autorin gezeigt, wie es mit der Tube Kunst so ist: Zwischen «Code» und «Deco» ist oft nicht leicht zu unterscheiden. Wenn in der Kunst etwas gezeigt wird, dann ist damit auch Verborgenes gemeint, und diese Arbeit des Chiffrierens und Dechiffrierens hat Brigitta Falkner in ihrem ersten Buch «Anagramme Bildtexte Comics» per Rebus auf den Punkt gebracht. Der Satz «Das langsame Verschwinden der Buchstaben» ist im Rebus verborgen, und er taucht, als Widerspruch zu sich selbst, in der Enträtselung wieder auf. Brigitta Falkners semantische Taschenspielertricks und all das Nebeneinander von Zeichen, Wörtern und Bildern sind Zaubereien auf der Höhe der Erkenntnis. Am Ende ist alles nur eine Frage der Relationen. Im Buch «Populäre Panoramen» unternimmt Brigitta Falkners Erzählerin eine Reise, indem sie sich vorstellt, sie sei auf die Grösse einer Stubenfliege geschrumpft, sei vierzigtausendfach verkleinert, mit allen Konsequenzen: ein paar am Körper haftende Tropfen würden das Vielfache seines Gewichts ausmachen, die Pupillenweite wäre auf fünfundzwanzigtausend Nanometer verkleinert, was dazu führen muss, dass vorbeifahrende Züge nur noch schemenhaft wahrgenommen werden können. Während der Text eine Eisenbahnfahrt beschreibt, in der jede Bewegung fast bis zum Stillstand verlangsamt ist, zeigen die Fotografien eine Millimeterwelt aus Modelleisenbahnen, Miniaturhäuschen und winzigen Plasticfiguren. Die aufs Kleinstformat geschrumpfte Wirklichkeit tritt monströs vor die Augen des Lesers. Es steht für mathematische und physikalische Gleichungen, bei denen immer auch ein Rest bleibt: der überschuss der Phantasie. Eine Pflanze von phantastischen Ausmassen ist die Riesenrafflesie. Die Blüte dieses Vollparasiten erreicht einen Durchmesser von einem Meter, der Rest der Pflanze ist myzelartig und vollkommen mit dem Wirt verschlungen, sie hat ihn ganz, so wie sie auch uns hat: unsere Vorstellungen, wenn wir von ihr lesen. Taxonomie, Philosophie und Traum mischen sich in Brigitta Falkners beeindruckendem Buch, das auch als eine in den Comic gewendete Reverenz an die zeichnende Naturforscherin Maria Sibylla Merian gelesen werden kann. Wenn bei Merian die Aufklärung in frohen Farben daherkommt, dann tut sie das bei Falkner in klarstem Schwarz-Weiss. Wie zur Warnung: Unbehaglich und gefährlich wie die Kunst selbst sind die Organismen, die sich in die Hirne und Augen ihrer Wirtstiere einspinnen. Oder solche, die die Zunge eines Lebewesens durch sich selbst ersetzen.
– Paul Jandl, NZZ (17/5/2017)