Bunte Tuben – oder die Neuerfindung des Anagramms

Brigitta Falkner hat schon in früheren Publikationen gezeigt, dass sie das Anagramm für episches Erzählen verwenden kann – der Band Bunte Tuben enthält nun, sieht man von den zahlreichen Abbildungen bunter Tuben ab, ein einziges, sich über 40 Seiten erstreckendes Anagramm. Was Falkner hier zuwege bringt, ist erstaunlich. Wie lässt sich erklären, dass ein Anagramm – das man sich ja nur mit minimaler Geschwindigkeit verfasst vorstellen kann –, den Eindruck eines so hohen Tempos erwecken kann, und damit verbunden einer Leichtigkeit, die an einen Spitzentanz im Ballett erinnert? Der Vergleich ist allerdings nur auf das scheinbare überwinden der Schwerkraft gültig, das dem überwinden des «Materialwiderstands» entspricht, der bei einer zeilenweisen Beschränkung auf ein bestimmtes Set an Buchstaben als kaum mehr steigerbar angenommen werden kann1 . Er bezieht sich nicht auf die ästhetik des klassischen Ballets – im Gegenteil, möchte man sagen, denn Falkner verfolgt eine radikal zeitgemäße ästhetik, mit der sie sich nicht in Traditionen einschreibt, sondern sich als Schriftstellerin immer wieder neu herausfordert und selbst entwirft – und uns dabei als ausgesprochen eigenständige, intelligente und humorbegabte Künstlerin entgegentritt. Welches Potential im Anagramm liegt, welche Spielräume im Verhältnis zur bestehenden Anagrammliteratur noch auslotbar sind, Falkners «Bunte Tuben» lassen es erahnen, indem diese, fast Zeile für Zeile, die Erwartungen übertreffen, die man sozusagen nicht einmal hatte. Wodurch entsteht die eingangs erwähnte Leichtigkeit des Texts? Mehrere formale Elemente spielen da zusammen: Dialoge, bei denen einander knappe Repliken mit hohem Tempo folgen, die mit Fragen und Antworten verbundenen lebhaften Intonationskurven und Akzente, die für ein Anagramm höchst ungewöhnliche Rhythmisierung des Textes, der häufige Wechsel von Erzählerund Figurenrede sowie ein Spiel mit dem Reim (ja, Reim!) und anderen bewusst eingesetzten Wiederholungsfiguren, das geschickter nicht sein könnte. Quasi von selbst entsteht beim Anagramm durch die Beschränkung auf ein festgelegtes Set an Buchstaben eine von der Normalsprache abweichende Klangqualität – ein Anagramm ist in der Regel auch ein Lipogramm – insofern eben, als es der Ausgangszeile entsprechende, gewisse Buchstaben und damit auch Laute und Lautkombinationen, die sich daraus ergeben könnten, ausschließt. Falkner hatte die Vokale o, e, i und u zur Verfügung – es fehlt also das a und somit der nach dem e häufigste Vokal im Deutschen. Die «erlaubten» Konsonanten sind: b, c, d, h, n, r, s, t, w, z – in der Summe beschränkt sich Falkner auf etwas mehr als das halbe Alphabet. Was ist eigentlich der Ausgangstext des Anagramms? üblicherweise geht dem Anagramm eine Ausgangszeile voran, die AnagrammautorInnen mit Vorliebe anderen Texten entlehnen. In «Bunte Tuben» ist das nicht der Fall. Ist es die erste Zeile: «Schöner Witz» «Unbedeutend»? Nichts deutet darauf hin. Oder die fettgedruckte Zeile auf dem zweiten Blatt, die als einzige als gesamte fettgedruckt ist und zudem syntaktisch unabhängig? «Benütze den Wunsch-Editor!» lautet sie, erscheint aber eher als origineller Anagrammfund denn als Ausgangstext. Ganz offensichtlich ist es ja auch nicht der Titel «Bunte Tuben». Das Besondere des Titels ist natürlich, dass er das Verfahren vorführt: Dass «Tuben» ein Anagramm von «Bunte» ist oder umgekehrt, wird durch die Farben, die den einzelnen Buchstaben auf dem Umschlag zugeordnet sind, noch unterstrichen. Die Anagrammbildung – es ist die einzig mögliche, wenn man sich nicht auf eine rein lautspielerische Ebene begeben will – hat den schönen Nebeneffekt, dass die zwei zweisilbigen Wörter homovokalisch sind und die Konsonanten im Silbenanlaut jeweils vertauschen. Wenn man sich mit zeitgenössischen Texten beschäftigt, hat man, wie es mitunter kritisch heißt, den Nachteil des geringen historischen Abstands. Dagegen hat man den Vorteil, dass man die AutorInnen zu ihren Texten befragen kann. Brigitta Falkner ist eine Autorin, die ihre eigenen Texte ungern kommentiert, aber ich erfuhr in einem Gespräch mit ihr, dass es tatsächlich – wie ich vermutet hatte – keine Ausgangszeile für dieses Anagramm gibt. Der Ausgangspunkt war vielmehr ein Materialfund: im Dutzend abgedruckte Abbildungen von Tuben im Heimwerkermagazin «Selbst ist der Mann» (1964). Für diese fand Falkner das titelgebende Anagramm «Bunte Tuben», und daraus erwuchs, wie man sich leicht vorstellen kann, das Vorhaben, etwa Anagrammatisches dazu zu machen. Die Textsorte war also festgelegt, nicht jedoch das Buchstabenset. Diese Situation nützte Falkner nun, indem sie die Textproduktion von der Inhaltsseite her anging: Da gab es Ideen und Begriffe, die unbedingt vorkommen sollten und deren Buchstaben – neben den «bunten Tuben» – quasi von vornherein feststanden. Erst nach und nach bewegte sich Falkner auf die Buchstabenauswahl, auf ihre Anagrammzeile hin – und erfand schon damit die Form neu. Denn in der Sekundärliteratur zum Anagramm wird nichts mehr betont, als dass es sich bei dieser Form um eine ganz auf sich und die Sprache bezogene Form handle, abgeleitet aus Sprache, eben der Ausgangszeile, und wieder auf Sprache verweisend. Brigitta Falkner zeigt mit den «Bunte[n] Tuben», dass die Form des Anagramms anders gedacht, anders benützt werden kann, als bisher angenommen. Die Ebene von Idee und Inhalt ist hier nicht das Nachgeordnete und damit Sekundäre, sondern gewissermaßen gleichrangig – Form und Inhalt werden hier ständig aufeinander abgestimmt; Ideen treiben den Text voran, daraus entstehen lipogrammatische Textelemente mit beschränktem Alphabet, die dann kombiniert oder verschoben oder durch Einschübe voneinander getrennt werden müssen, um dem Prinzip der festgelegten Anagrammzeile zu entsprechen. Eine solche Textproduktion unterscheidet sich wesentlich von den traditionellen Formen des Anagrammierens, das in einem zeilenweisen Vorgehen besteht, bei dem üblicherweise Scrabblesteine verwendet oder die gewählten Buchstaben auf dem Papier sukzessive abgestrichen werden. Die besondere Vorgangsweise Falkners erklärt auch – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad – die besondere Qualität des Texts: das Zustandekommen eines weitgehend nachvollziehbaren Inhalts, einer Erzählung, die auf geistreich-witzige Weise eine ganze Reihe semiotischer Fragestellungen umkreist, während das Geschehen auf der primären Handlungsebene ebenso wie das Unterfangen der «Deutung» erotisch aufgeladen werden. In mancher Hinsicht ist dieser Inhalt tatsächlich – der Textsorte Anagramm entsprechend wieder selbstreflexiv, rankt er sich doch um einen Interpretationsversuch bzw. eine Analyse der «bunte(n) Tuben» – und zwar sowohl der Signifikanten, der «zwo Bedeutenden», als auch der «zwo» Tuben selbst, die sich z.B. durch ihre «Dünste» unterscheiden. Entsprechend dem paarweisen Auftreten der Tuben auf den Abbildungen – «Tendenz bei den Tuben: zwo» – spielt die «zwei» meist als «zwo» aber auch als «Duo» eine große Rolle. Explizit autoreferentiell ist das mit einem fettgedruckten ENDE eingeleitete Ende des Textes: Während das erzählende Ich endet, geht es auch mit den Tuben zu Ende: «Tubentendenz deszendent.» Sprach- und Wirklichkeitsebene werden in diesem Ende zur Deckung gebracht, nachdem in diesem Großanagramm ihr Verhältnis auf mannigfache Weise spielerisch ausgelotet worden ist. Wer sind die Protagonisten des Textes, wer begibt sich auf die Suche nach dem «Tuben-Code»? Die erste im Text erwähnte Figur ist, nach einem kurzen Eingangsdialog und der Tubeninformation des Erzählers («Rechts, die dünne, / wurde benutzt») der mit «Du» angesprochene Dichter: «[…] die schönen / Wörtchen indes benutze DU / DICHTER». Schon auf der ersten Seite kommen weiters ein «Ich» und zwei Studenten vor:

[…] Unterdes ich oben
den (o den!) Witz suche, brüten
zwei Studentchen drüben (o
drüben!); schwitzen & deuten (o
deuten!) den zwoten Rebus»;

Erwähnung findet davor auch schon das Buch des DOZENTEN, mit dem eine vielschichtige Wissenschaftsparodie einleitenden Titel «über die Duo-Tendenz bei Würstchen & Brüstchen». Paul Jandl hat Brigitta Falkners «Bunte Tuben» in der NZZ als «philosophischen Spass erster Ordnung» bezeichnet; besonderes Lesevergnügen wird der Text jenen LeserInnen bereiten, die das «akademische Pflaster» kennen, als Ort emotional geführter wissenschaftlicher Kontroversen, als Ort, an dem Hierarchien eine große Rolle spielen. Das Oben-Unten-Verhältnis zwischen Dozent und Studentchen wird bei Falkner geschickt in Szene gesetzt: zunächst durch die erste Wortmeldung des Dozenten «Ich, o ich», dann durch die an die Studenten gerichteten Imperative «übt! übt!». Aber gerade der, «der oben sitzt», wird natürlich Gegenstand des parodistischen Spiels – implizit lächerlich gemacht durch den Ernst, mit dem er sein – alles andere als ernstzunehmendes – Thema abhandelt, explizit durch den immer wieder verwendeten Diminutiv «Dozentchen» – der allerdings auch den «Studentchen» nicht vorenthalten wird. Die Universität wird nuancenreich – mit Witz und «Subwitz» – als Ort mühseliger und von außen betrachtet absurder Studien und Interpretationsanstrengung aufs Korn genommen. Zeichnet sich anfangs eine intellektuelle Auseinandersetzung ab, bringt das Auftreten der «scheuen Neuen» eine sinnlich erotische Qualität ins Spiel: «Zwo Beine durch / die Tür schwebten – und: Zone / Zwo nun scheu betretend: Die / NEUE. Biszchen Wunder». Einerseits offenbar durch ihr physisches Erscheinen, andererseits durch ihr haptisch-sinnliches Untersuchen der Tuben, an denen sie riecht … Durch verschiedene graphische Auszeichnungen – Kursivierung, Fettdruck, Sperrung, aber auch durch Klammern, Gedankenstriche, Doppelpunkte etc. gelingt es Falkner, den Text zu gliedern und auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu entfalten. «Biszchen Wunder», denke ich mir – als von Anfang bis zum Ende verblüffte Leserin – in Bezug auf das ganze Buch.

1) Eine Steigerungsform in dieser Hinsicht stellt höchstens das Palindrom dar, ein Text also, der Buchstabe für Buchstabe auch von hinten nach vom gelesen werden können soll und dabei auch einen Sinn ergibt – eine Textsorte, an der sich Falkner ebenfalls schon virtuos und innovativ versucht hat, mit palindromischen Comics oder auch einem solchen Minidrama.
– Astrid Poier-Bernhard, manuskripte 167 (2005)