Im Schlagschatten einer Zündholzschachtel

„Parasit sein heißt: bei jemandem speisen“, schreibt der Philosoph Michel Serres in Der Parasit von 1981. Ausgangspunkt seiner zwischen Epistemologie und Poesie changierenden Theorie ist eine Figur, die sich rücksichtslos von anderen ernährt. Sie tut dies stets in verschiedenen Formationen und über alle Zustandsänderungen hinweg: als schwaches Rauschen, das sich störend zwischen Sender und Empfänger schiebt, als mikroskopisch kleines Tier, von dessen Existenz uns erst eine Lupe überzeugt und als Mensch, der auf unscheinbare Weise zur Laus des Menschen werden kann. Klandestin schleicht sich Serres’ Parasit ein in mediale Kanäle, befällt Organe oder wird unverhofft zum Dauergast. Als schmarotzende Art ist er jedem Gewebe immanent und bleibt doch ein Fremdkörper – egal, ob im Text oder im Textil. Von parasitären Strategien und ihren diskursiven Verflechtungen handelt auch Brigitta Falkners Strategien der Wirtsfindung von 2017. Egal ob inmitten zivilisatorischer Altlasten oder einem Korb voll schmutziger Wäsche – auf Parasiten zeigen will die Wiener Autorin in und mit ihrem Werk ebenso wenig wie von ihnen erzählen. Stattdessen zapft Falkner Diskurse aus Biologie, Philosophie und Metaphysik an, um sie sich einzuverleiben, speist Artfremdes ein in ihr immer dichter werdendes Netz aus Worten und Bildern. Generisches Material ihrer Collagen sind Zeichnungen und Gedichte aus eigener Züchtung, mal umrankt, mal überwuchert von den Zitaten der anderen. Wer hier von wessen Worten zehrt, bleibt unklar. So etwa nimmt im ersten Abschnitt einer insgesamt zehnteiligen Forschungsreise in die Mikrowelten von Staubmilbe und Fadenwurm ein farbloser Geheimrat auf einem ebenso farblosen Canapé Platz. Kein geringerer als Goethe selbst okkupiert dort das Interieur einer Autorin, die sich von des Dichters Botenstoffen nur bedingt locken lässt. Aus ihrer Sicht ist seine Sitzgelegenheit von größerem Interesse: „Ein erfülltes Milbenleben. Rückblende: Kissen. Vier Wände. Ein Bett. Kein Plot. Stattdessen: Fressen ohne Ende auf sicherem Gelände“ (10).  Wenn Falkner den Leser_innen Einblicke in das Leben parasitärer Organismen gewährt, dann lädt ihr Blick nicht unbedingt zum Verweilen ein. Er versperrt sich den Dingen, weil er zu tief an ihrer Oberfläche kratzt, offenbart absurde Details, die – ähnlich wie in Charles Burns Black Hole – ihre eigene Sogwirkung entfalten. Ihre kontrastreichen Tuschezeichnungen fügen sich nicht ein in die narrativen Muster einer Graphic Novel, selbst dann nicht, wenn Farbdrucke ihre Sporen vervielfältigen. Durch Lupen und Okulare gerahmt, gleichen die Bilder Augenblicksansammlungen, die kontingent und unverbunden keiner kausalen Logik unterstehen. Hier wird nicht erzählt, hier wird im Zickzack-Kurs hin- und hergesprungen, werden Perspektiven variiert und Verhältnisse verkehrt. Im Dickicht der Textur müssen die Leser_innen ihre eigenen Pfade finden – oder, wie es in Rekurs auf eine Redensart auf Seite 72 heißt – sich den Wurm rechtzeitig aus der Nase ziehen; andernfalls werden sie im Folgebild davon nicht einmal mehr den Fort-Satz erkennen. Befreiung vom akuten Befall verspricht auch nicht der zehnseitige Appendix. Am Ende des Buches gibt Falkner kein Geheimnis preis, sondern fängt mit dem Verwirrspiel von vorne an. Strategien der Wirtsfindung tarnt sich dort als winzige Zündholzschachtel mit beiseite geschobenem Deckel; wer diesen nicht beizeiten schließt, wird ein zweites Mal zur Pandora eines Buches, das trickst und täuscht – auch durch die Vermeidung von Schlagschatten. Irgendwo zwischen Tiefgang und Abgang, in unmittelbarer Nähe von schlichten Schlapfen und einfachen Fichtenzapfen, fängt Falkners Referenzgewirr zu wuchern an. Unterwegs sammelt die Autorin auch partes pro toto ein, die bei der Menschwerdung verloren gingen. „Ist nicht das Insect das noch los schwebende Auge des Menschen, ist nicht die Schneke seine noch abgetrennte Hand, der Vogel sein werdendes Ohr und so fort“ (93), heißt es etwa in einem durch herumliegende Körperteile illustrierten Zitat aus Lorenz Okens Abriß des Systems der Biologie von 1805. Wie gut Sprachphilosophisches neben Entomologischem und Taxonomisches neben Poetologischem gedeiht, beweist Falkner auch an anderen Stellen ihrer metafiktionalen Enzyklopädie. Dort, wo Meeresboden und Weltraum auf ein- und derselben Fläche miteinander kollidieren, beruft sie sich etwa auf Fritz Mauthners Ontologie möglicher Welten. Am Anfang ihrer Ordnung stehen nicht Maßstab und Statistik, sondern Rebus und Relation. Ein Bilderrätsel, das in Falkners Büchern immer wieder auftaucht, handelt deshalb auch vom langsamen Verschwinden der Buchstaben. Anders als erwartet, wird das Bild einer Ameise darin zu einem Zeichen in einer Signifikantenkette – Tarnung der Worte, Täuschung der Bilder oder doch die perfekte Mimikry? Die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen Medien stellt Falkner keineswegs in Abrede. Ihr Zauberwort heißt Symbiose.
– Barbara Eder, Wespennest 175/2018